Gelingende Sexualität – reflektiert aus einer psychologischen Perspektive swap_horiz

Immer wieder sprechen wir von „gelingender Sexualität“. Damit nehmen wir einen Begriff auf, der uns beim Studium unterschiedlicher sexualtherapeutischer und sexualberaterischer Ansätze immer wieder entgegenkam. Auch wenn der Begriff einen gewissen normativen Klang hat, so wird er in unserem Konzept aus einer Strebung erklärt, die der Mensch selbst hat. Jeder einzelne Mensch sehnt sich Glück, vor allem im Bereich der Sexualität. So ist „gelingende Sexualität“ nicht etwas, das durch Pädagogik hergestellt oder anerzogen werden soll. Es ist aber etwas, das der Mensch mit Hilfe pädagogischer Erhellung für sein eigenes Leben so ergründen soll, damit seine eigenen Möglichkeiten für ein Gelingen erhöht werden.

Das Stichwort „gelingende Sexualität“ muss vom pädagogisch Handelnden daher immer wieder der Selbst- und Theoriereflexion unterzogen werden. Denn leicht kann es geschehen, dass sonst der Begriff zur Worthülse verkommt, durch den der Mensch manipuliert wird.

Im nachfolgenden Beitrag soll der Begriff nun aus psychologischem Blickwinkel beleuchtet werden. - Damit ist schon angedeutet, dass der Begriff in weiteren Beiträgen aus dem Blickwinkel anderer Disziplinen beleuchten werden soll. – In dieser psychologischen Reflexion zeichnen wir vor allem einige Theorien nach, in denen der Begriff im Kontext der Psyche des Menschen und seiner Beziehungen direkt oder indirekt verhandelt wird. Um die theoretischen Ausführungen greifbar zu machen, haben wir den Begriff im Kontext heterosexueller Liebesbeziehung reflektiert.

Die Begegnung mit den Wünschen von Menschen

Am Anfang war keine Theorie, sondern Begegnung. Und zwar mit Menschen, die von sich sagten, ihnen würde Sexualität und Beziehung nicht gelingen. Dies war der Grund warum sie Beratung aufsuchten. Mit unterschiedlichen Worten formulierten sie den Wunsch, nach Aufbau gelingender Liebesbeziehungen. Gleiches vernahmen wir in der Begegnung mit jungen Menschen. Fragten wir sie nach ihren Wünschen im Bereich Liebe und Sexualität, dann ging es häufig um Treue, lebenslange Verlässlichkeit und den Wunsch Sexualität erfüllt und ohne Ausbeutung zu erleben. Erstaunlich bei solchen Fragerunden war, dass die Jugendlichen sehr genau beschreiben konnten, welche Fähigkeiten es in ihnen braucht, damit die genannten Wünsche Realität werden konnten. – Daraus folgerten wir, dass Menschen wohl nach so etwas wie einem „Gelingen der Sexualität“ streben.

Gelingende Sexualität

Dass Sexualität nicht einfach etwas ist, dass dem Menschen gelingt wird vor allem in der Fachwissenschaft der Sexualtherapie theoretisch dargestellt. So weisen Klaus Beier und Kurt Loewit in ihrer sogenannten „syndiastischen Sexualtherapie“ drei zentrale Motive für die Sexualität aus: Das Fortpflanzungsmotiv, das Beziehungsmotiv und das Lustmotiv (1).

Übersetzen wir die drei Motive in den Alltag einer Ehe, dann kann man dort beobachten, wie hin und wieder das Lustmotiv gegen das Beziehungsmotiv streitet. So weiss man aus Umfragen mit Frauen, dass sie vor die Sexualität eine geklärte Beziehung stellen. Vom Mann hingegen weiß man, dass er die Sexualität häufig benutzt, um die Übereinstimmung in einer Beziehung herzustellen.

Noch mehr tritt uns die psychische Dynamik zwischen Fruchtbarkeit, Lust und Beziehung dort entgegen, wo Menschen Beziehungsängste haben. Vielleicht weil sie Menschen generell weniger vertrauen können oder weil sie vom anderen Missachtung und Grenzverletzung befürchten. In solchen Fällen wird Sexualität oft kompliziert und nicht selten zu einem Ort, in dem sich ein Paar verletzt oder der Rückzug aus der ehelichen Sexualität beginnt. Dieser endet dann nicht selten in sexuelle Phantasien und Illusionen, in denen nach der Lösung dessen gesucht wird, was in der Beziehung nicht gelingt (2).

Was sich hier andeutet ist, zweierlei: Gelingende Sexualität wächst dem Menschen trotz aller biologischen Voraussetzungen, die er als Geschlechtswesen mitbringt, nicht einfach zu. Zweitens: Sexualität scheint dem Menschen dann am ehesten zu gelingen, wenn er dem anderen angstfrei, sprich mit einer gewissen psychischen Stabilität begegnen kann. Will man im Kontext sexualpädagogischen Handelns dem Menschen die Möglichkeit zur Entfaltung einer gelingenden Sexualität anbieten, muss daher geklärt werden wie eine solch psychische Stabilität im Menschen beschaffen sein muss?

Psychische Stabilität und Sexualität

Am besten lässt sich das Phänomen der psychischen Stabilität als Voraussetzung gelingender Sexualität im Alltag zweier Menschen verstehen, die miteinander Sexualität teilen. Stellen wir uns dazu eine alltägliche Szene vor: Ein Mann und eine Frau teilen Sexualität miteinander. Nach einem liebevollen Vorspiel kommt es zur Vereinigung, in der beide zu ihrem Höhepunkt finden. Die Frau etwas später als der Mann. Schließlich halten sich beide noch im Arm, jedoch schläft der Mann früher ein, als die Frau.

Die Frage ist nun: Was sind die Voraussetzungen, damit die Frau - die in der Szene zunächst allein wachliegend zurückbleibt - die erlebte Sexualität als gelingend definieren kann? Wird diese Frage in einem Seminar gestellt, so sind die Antworten darauf verblüffend: So gehen die meisten Zuhörer davon aus, dass die Situation von der Frau unmöglich als gelingend interpretieren werden kann. Denn sie ist - typischerweise - ja mal wieder von ihrem Mann nur benutzt worden, was daran festgemacht wird, dass der Mann einfach eingeschlafen ist und die Frau sich selbst überlassen hat.

Damit zeigt diese Antwort an, was gelingende Sexualität nicht ist. Sexualität kann dann nicht gelingen, wenn der eine Partner dem anderen etwas unterstellt. Sie kann aber dort gelingen, wo sich die Frau beim Mann gefunden weiss, was sich nur erfüllt, wenn zwischen beiden ein tiefes Verstehen existiert.

Dazu braucht die Frau aber die psychische Fähigkeit, die Begegnung mit dem Partner mental zu durchdringen. So muss es der Frau, in der beschriebenen Situation gelingen, die Absicht ihres Mannes zu lesen. Das aber kann sie nur, wenn sie sich in ihn einfühlen kann und weiß, dass er sie nicht für seine Lust ausgebeutet hat, sondern liebt. Mehr noch, sie muss, um ihm zu vertrauen, sich in seine Perspektive ganz und gar hineinversetzen können. Wenn sie in dieser Perpsektivübernahme dann an den Punkt gelangt, an dem sie in Berührung mit dem liebenden Blick ihres Mannes kommt, der sich viele Vorwürfe dann machen würde, wenn er seine Frau zum Objekt seiner Lust degradieren würde, dann kann sie in sich Vertrauen herstellen.

Und selbst wenn sich bei dieser Einfühlung ein Zweifel einstellen würde, müsste das Vertrauen der Frau noch nicht dahin sein. Vor allem nicht dann, wenn sie sich bis zu dem Punkt eines in der Zukunft liegenden klärenden Gesprächs mit ihrem Mann denken kann, in dem sie ihre Zweifel selbstbehauptet klärt, ohne sich von ihren emotionalen Zweifeln hinwegreissen zu lassen.

Die Fähigkeit zur Selbstdifferenzierung

So ausgelegt, deutet sich an: Gelingende Sexualität beruht auf einer großen innerpsychischen Reife, in der sich der Mensch zu gleich auf die Gewissheit bezüglich seiner eigenen sexuellen Wünsche beziehen kann, sowie eine Einfühlung in das Verhalten eines anderen entwickeln kann (u.v.a.m.). Beim Gelingen geht es aber nicht nur um den Aufbau von Vertrauen. Gelingen ist auch mit der psychische Fähigkeit verbunden, durch die eine Person ihre Fragen, Zweifel, Gefühle und Infragestellungen, selbstbewusst in die Beziehung einbringen kann, bei gleichzeitiger Achtung der Perspektive des anderen.

Der Sexualtherapeut David Schnarch bezeichnet diese Fähigkeit als Differenzierung des Selbst (3). So stellt er fest, dass die Menschen am wenigstens Probleme im Bereich der Sexualität haben, die über die Fähigkeit zur Beziehung und zur Autonomie verfügen und die emotional schwierige Situationen durchhalten und ausbalancieren können.

Damit definiert er vier Fähigkeiten über die ein Mensch verfügen sollte:

  • Die erste nennt er die Fähigkeit zur „Beziehung“. Sie umfasst die Kraft und die Sicherheit, sich einem Du hingebend anvertrauen zu können, sich dessen Bedürfnissen öffnen zu können, ohne sich dabei selbst ganz und gar aufgeben zu müssen.
  • Die zweite Fähigkeit bezeichnet er als „Autonomie“. Mit ihr kann der Mensch seinen Selbststand bewahren und seine Bedürfnisse vertreten, ohne die Bedürfnisse oder die Person des anderen abwehren zu müssen.
  • Auf der Ebene der „Emotion“ verfügt ein Mensch mit Selbstdifferenzierung über die Fähigkeit seine Gefühle zulassen zu können, ohne sich aber von ihnen hinwegreissen lassen zu müssen.
  • Daneben ist es ihm aber auch rational möglich, unangenehme Situationen auszuhalten, ohne dabei seine Gefühle ganz und gar unterdrücken zu müssen.

Wer entlang dieser vier Aspekte verschiedener Szenarien von Sexualität in Paarbeziehungen durchgeht, kann erkennen, dass hier Fähigkeiten genannt sind, die dem Menschen tatsächlich helfen, seine sexuellen Wünsche und Sehnsüchte immer wieder neu in einer Beziehung, aber auch in seiner Person auszubalancieren.

Das wollen wir uns nochmal anhand eines Falles vor Augen führen. - Da ist ein Paar, die beschlossen haben ihre eheliche Sexualität dem Rhythmus des natürlichen Zyklus der Frau anzupassen will. Zu dem hat das Paar vor wenigen Monaten ein Kind entbunden, so dass derzeit keine Schwangerschaft vorgesehen ist. - In dieser Paarbeziehung brauchen beide die Fähigkeit zur Balance von Emotionen und Frustrationen. Vor allem dann, wenn der Mann den Wunsch äußert, Sexualität teilen zu wollen, die Frau aber mitteilt, dass der Rhythmus des Zyklus dies derzeit nicht erlaubt. In dieser Situation braucht der Mann die Fähigkeit, mit der unangenehmen Situation des Verzichts umzugehen, auf der anderen Seite muss ihm zugänglich sein, dass er als Person mitsamt seinem Bedürfnis ok ist. Die Frau dagegen muss wissen, dass sie sich vom Wunsch des Mannes nicht unter Druck setzen lassen muss, sondern dass sie ein Recht auf ihre Grenzsetzung hat, ohne dass dadurch die Beziehung gefährdet wird. Der Mann seinerseits muss nun die Fähigkeit haben, sich mit der Frustration seiner Frau anzuvertrauen, bei gleichzeitiger Fähigkeit, die Grenze seiner Frau zu achten. (etc.)

Allein dieses Beispiel belegt, dass zum Gelingen von Sexualität eine hohe psychische Befähigung gehört. - Diese erwirbt ein Mensch aber nicht erst in der Ehe, diese muss er mitbringen.

Überlegungen für die Sexualpädagogik

Welche Überlegungen oder gar Anforderungen für die Sexualpädagogik ergeben sich daraus? - Um über die Fähigkeit zur Differenzierung des Selbst zu verfügen, muss ein Mensch viele psychische Funktionen ausgebildet haben, die ihm helfen, sein Selbst zwischen Autonomie und Bindung in Balance zu halten. Eine Sexualpädagogik, die dem Menschen das Angebot machen will, seine Möglichkeiten gelingender Sexualität zu erhöhen, muss also u.a. auch die Bereiche Emotion, Kognition, Mentalisierung und Selbstdifferenzierung im Blick haben.

Vor diesem Hintergrund muss immer wieder, wie Eingangs bereits erwähnt, kritisch zwischen der Unverfügbarkeit der Person des jungen Menschen und dem Angebot der Förderung psychischer Fähigkeit abgewogen und reflektiert werden. Denn gerade der Eingangs erwähnte junge Mensch, der sehr genau weiß, welche Fähigkeiten er braucht, damit seine Wünsch im Bereich Sexualität wahr werden können, fordert Begleitung und Förderung ein. Sexualpädagogisch Handelnde müssen daher prüfen, wieweit sie sich auf eine solche Forderung einlassen können, ohne den Menschen in seinem - andernorts beschriebenen -Selbstumgang seiner Sexualität auf falsche Weise zu beeinflussen.

Endnotes

(1) Beier, Klaus M. ; Loewit, Kurt K.: Praxisleitfaden Sexualmedizin : Von der Theorie zur Therapie. 2011. Aufl.. Berlin Heidelberg New York 2012

(2) Anmerkung: Das hier nur angedeutet Phänomen ist in verschiedenen Untersuchungen vielfach belegt: vgl. Doran, K., & Price, J. (2014). Pornography and marriage. Journal of Family and Economic Issues, 35, 489–498; Lam, C. B., & Chan, D. K.-S. (2007). The use of cyberpornography by young men in Hong Kong: Some psychosocial correlates. Archives of Sexual Behavior, 36, 588–598; Nelson, L. J., Padilla-Walker, L. M., & Carroll, J. S. (2010). ‘‘I believe it is wrong but I still do it’’: A comparison of religious young men who do versus do not use pornography. Psychology of Religion and Spirituality, 2, 136–147; Mitchell, Kimberly J.; Becker-Blease, Kathryn A.; Finkelhor, David; Inventory of Problematic Internet Experiences Encountered in Clinical Practice. Professional Psychology: Research and Practice, Vol 36(5), Oct 2005, 498-509; u.a.m.

(3) Schnarch, David Morris: Constructing the Sexual Crucible : An Integration of Sexual and Marital Therapy. Hamburg: Norton, 1991